Endlichkeit des Lebens

Manchmal glaubt der Tod, uns ans Leben erinnern zu müssen. Er plustert sich, drohgebärdend, auf und stellt sich vor unser flackerndes Licht. Dann will er mehr sein als nur der stille Begleiter, der sich auf unseren Spuren von Schatten zu Schatten drängt: Er stellt sich uns entgegen, versperrt uns den Weg und drängt sich in die Sonne. „Schau mich an“, scheint er zu raunen, „ich fordere dich auf, dein eigentliches Ich zu sein. Wie blickst du mir entgegen? Heroisch, voll Gleichmut, voll unterdrückter Angst? In meinen Augen spiegelt sich deine schlimmste Furcht, ich gewinne meine Macht durch das, was du mir zuschreibst. Ich kann alles für dich sein. Tiefste Qual, endloses Entsetzten, silberne Hoffnung, endlose Erlösung. Ich lasse dich ruhen, oder auferstehen, lasse dich aufgeben oder frei wie ein Traumgespinst jede Möglichkeit realisieren. Wähle – denn das ist deine Pflicht.“

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Neulich bin ich über die „Bilder des Todes“ von Hans Holbein gestolpert. In einer Serie von 41 Zeichnungen widmet sich der um 1497 in Augsburg geborene sozialkritische Künstler im 15. Jahrhundert den Darstellungen menschlicher Perfiditäten. Zumindest lese ich die Bilder derart: Während im ersten Bild des Zyklus, der „Schöpfung der Welt“, der Tod noch vergeblich gesucht wird, scheint er sich im zweiten Bild, dem „Sündenfall“ bereits in einer grotesk wirkenden Fratze abzuzeichnen. Ab der dritten Zeichnung, der „Vertreibung aus dem Paradies“, ist der Tod Gestalt geworden, von nun an wird er uns begleiten, ihm nicht mehr von der Seite weichen, und dann, wenn der niederträchtige Mensch sich wider seine Aufgabe wendet, greift er zu: So nimmt er einen Papst mit sich, der gerade einen König krönt, einen Mönch, der sein Sparschwein rettet, den Herzog, der die Armen ignoriert. Und doch ist der Tod auch Freund, Kamerad, spielt auf seiner Laute zu Evas und Adams Flucht aus dem Paradies,...

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Du willst noch schnell beim Discounter dein Abendessen holen – nicht, weil es deiner Philosophie entspricht, sondern weil er so günstig auf deinem Nachhauseweg liegt. Fürs gute Gewissen kannst du ja Bioprodukte kaufen. Gerade willst du dein Rad abstellen, als du diesen alten Mann siehst: Schwer auf seinen Krückstock gelehnt, in der anderen Hand eine Tüte eben jenes Discounters, müht er sich ab, seinen Fuß über die kleine Schwelle zu haben, die den Parkplatz des Supermarkts vom Gehsteig trennt.

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Wir sitzen auf dem Steg und lassen die Beine ins Wasser baumeln: Wie so oft haben wir uns beim Laufen getroffen und nutzen die Morgenstille, um kurz innezuhalten. „Wohin fährst du in den Urlaub?“, fragt er, „Dahin, wo ich noch nie war“, grinse ich ihn an, wohl in dem Wissen, dass er wieder auf genau den Campingplatz fahren wird, an dem er seit 18 Jahren seine Sommerurlaube verbringt. Für ihn sind Beständigkeit und Sicherheit die höchsten Werte, die deutlich spürbaren Bedürfnisse, bei mir stehen Veränderung und Entdeckung an erster Stelle. Das meint nicht, dass wir nicht auch jeweils die gegensätzlichen Bedürfnisse haben und ausleben würden – sie sind nur in unterschiedlicher Intensität, zu unterschiedlicher Zeit und mit unterschiedlichen Verhaltensstrategien Teil unserer Leben. Die Kunst einer jeden Beziehung, einer jeden Freundschaft ist dabei, den anderen in seiner Wahl zu lassen, zu akzeptieren und zu respektieren - und nicht die eigene Entscheidung als die einzig richtige zu...

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Seit einigen Monaten hat sich der Tod in meinem Leben eingenistet: Wie zu einem Picknick im Grünen breitete er seine Decke und packte er seinen Korb aus und ließ sich nieder. Und nun sitzt er da und schmaust: Einen großen Pott Kirschen hat er mit gebracht. „Vor dem Herbst sterben die Leute eher als die Fliegen“, hieß es damals, in meiner Kindheit, bei uns auf dem Land.

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Ich halte deine Hand mit der viel zu groß gewordenen Haut, die lose und faltig um deinen Handrücken liegt. Wann hast du all diese Altersflecken bekommen, frage ich mich und meine Lippen rezitieren von selbst die medizinischen Bezeichnungen, Lentigines Seniles, aber ich mag die Alternative, Lentigines Solares, viel, viel lieber, und ja, es passt mehr: Wir haben jeden Sonnenstrahl genutzt, haben uns zu Kindern der Sonne gemacht, damals, als wir noch glaubten, ich ginge vor dir. Ist das wirklich erst so wenige Wochen her? Deine Hand ist kühl, nein, sie ist eiskalt, sie fühlt sich nicht mehr wie deine Hand an, wie sie hier reglos, leblos, in meiner Handfläche ruht, und während durch die offenen Balkontür Baulärm hereindringt, ein Vogel scheint den Presslufthammer mit seinem Gezwischter imitieren zu wollen, Mimikri der Moderne, es wirkt wie ein groteskes Konzert, bei dem der Dirigent zuverlässig falsche Taktstockzeichen gibt, und ich merke, dass ich schluchze. Wo sind sie hin, unsere...

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Ich sitze am kalten, feuchten Kiesstrand und halte nach dem schwarzen Schwan Ausschau, der angeblich hier lebt. Mit ihm geht es mir wie mit Sternschnuppen: Jeder, den ich kenne, hat schon welche gesehen. Nur ich nicht. Obwohl oder vielleicht auch weil ich ständig danach Ausschau halte. Der schwarze Schwan zeigt sich auch jetzt nicht, natürlich nicht. Stattdessen spüre ich, wie mir etwas von hinten ins linke Schulterblatt pikst. Noch bevor ich mich umdrehe, nehme ich seine Präsenz wahr: „Hallo, Tod!“, grüße ich ihn und werfe ihm über meine rechte Schulter einen Blick zu. „Long time no see“, raunt er, „Hast du dich vor mir versteckt?“ „Ich hatte erst mal echt genug von dir, alter Freund, wirklich schön war´s nie mit dir!“ Er steht im Abstand von zwei Metern hinter mir. Er sticht mich mit dem Ende eines dürren, langen Asts in den Rücken. Der Tod trägt einen schwarzen, langen Umhang – und eine Atemschutzmaske. „Tod, du bist schon tot – wieso vermummst du dich? Wovor willst du dich...

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Wir sitzen uns am Tresen gegenüber, lässig lehnt er an der Bar, es scheint ihn nicht zu stören, dass er sich mit dem rechten Ellenbogen in verschüttetem Bier abstützt. Er greift sein Glas, nimmt einen tiefen Schluck, dann knallt er den Krug so fest auf, dass Schaum über den Rand auf den Untersetzer spritzt. Er kneift die Augen zusammen, schaut mich an und stopft sich eine Handvoll der Erdnüsse, die auf einer Schale auf der Theke stehen, in den Mund.

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Frustriert betrachte ich mein dürres Mandelbäumchen: Versuchsweise breche ich ein Ästchen ab. Es ist trocken, abgestorben, der letzte Frost hat es eingehen lassen. Ich setze mich ins kalte, feuchte Gras, wünsche, ich könnte mich schrumpfen lassen, um mich dann an das Stämmchen anzulehnen. Ich möchte mich verwinzigen, in einem Dickicht untergehen. Wenn ich klein wie ein Marienkäfer wäre, käme ich mir wie im Urwald vor. Ich rieche Rauch, rümpfe die Nase, „Du rauchst wieder?!“ fauche ich dem Tod entgegen, als er sich neben mich setzt. „Nur Zigarillos“, grient er mich an und klemmt sich den Stummel in seine Schneidezahnlücke. „Wie ist der Status?“, will er wissen: „Wir haben uns länger nicht gesehen!“. „Was heißt länger?!“, ich bin genervt, „Glaubst du echt,, dass irgendjemand täglich mit dir zu tun haben mag?“ „Ich dachte ja immer, es gäbe keine Rückschritte in der Entwicklung“, sinniert er, „Aber du beweist mir gerade das Gegenteil!“ Gekränkt schweige ich. „Kannst du endlich gehen?“,...

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In der Ferne muss ich mich verlieren, um dich zu finden. Ich schicke mein wanderndes Herz in die Steppe der Nacht, hatte ein Ziel vor Augen, umkreiste mottengleich das Licht. Wie eine künftige Momentaufnahme meines Seins, und was doch dort fehlen wird, ist dein müdes, sanftes, dünnes Lächeln, das mich erst in die Welt entsandte, weil ich es verlor. Weil es mir abhanden kam wie anderen Menschen der Briefkastenschlüssel, weil ich es vergaß, wie einen Handschuh liegen ließ, meist den rechten, weil es mir genommen war, weil du starbst. Und immer noch, nach all der Zeit, werden meine Augen feucht, kann denn jemals jemand auch vergessen? Und alles in mir sehnst sich nach dir, nach deinen Armen, deiner knochigen Schulter, deine Größe, die es mir erlaubte, mich in ihr zu verbergen. All die Momente, in denen du mir deine Welt eröffnetest, all das Kleine war so groß, unwiederbringlich heute klein geschrumpft. Und wenn ich nun beim Betreten dieses Kellers, ganz automatisch, meinen Arm nach oben...

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Seit geraumer Zeit sehe ich beim morgendlichen Laufen einen anderen Jogger: Nachdem er zu einer festen Uhrzeit zu laufen scheint und meine Zeiten, je nach meinen Terminen, stark variieren, treffe ich ihn mal auf meinem Hinweg, mal auf dem Rückweg, manchmal einige Tage gar nicht. Irgendwann haben wir begonnen, uns mit erhobener Hand zu grüßen und uns zuzulächeln – was heute nicht mehr allzu häufig unter den Sportlern der Fall ist. Viele drehen in exklusiver Sportklamotte mit verbissenem Gesichtsausdruck ihre Runden, versuchen, ihrem Hobby Leistungssportcharakter zu verleihen, die Kopfhörer schirmen sie von der Außenwelt ab.

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Der Morgen ist noch kühl, als ich los laufe. Später, bald schon, wird das Thermometer in die Höhe schnellen, wird 35 Grad und mehr anzeigen. Und ich, ich werde mich, träge und eingelullt, der Sonne hingeben, meine Haut ihre Strahlen trinken lassen, spüren, wie sie mich nach und nach erfüllt. Doch noch ist Zeit zum Laufen: Wie ich es genieße, ohne Schuhe am Strand entlang zu joggen, den noch kühlen, feuchten Sand unter meinen Fußsohlen zu spüren, ungefiltert wahrzunehmen, wie mein Körper durch sein Gewicht ein wenig in der Weichheit einsinkt. Und dann holt sich das Meer mit der nächsten verebbenden Welle seinen Platz zurück, füllt meine Spuren mit Salzwasser, manchmal schmatzt es dabei, und wenn ich zurück blicke, sehe ich eine wieder unberührte, glatte Ebene. Der Ozean glitzert im Morgenlicht, als ob sein Blau alle Farben in sich trüge... Wenn ich die Augen zusammenkneifen, kann ich all die Chimären und Fabelwesen auf den Wogen tanzen sehen. Ich brauche sie nicht zu jagen, auch sie...

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Ich träume. Ich habe für meine Lieblingsweinbergschnecke ein Miniatur-Geschirr gebastelt, die lange, filigrane Leine kann ich um meinen kleinen Finger wickeln, um die Schnecke spazieren zu führen. Behutsam zäume ich die Schnecke auf. Wir beginnen unseren Weg. Ich erinnere mich.

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Philipp, der Sohn der Mamma CA-Patientin, ist am Boden zerstört: Soeben ging ihm auf, dass die Statistik, die besagt, dass 80 % der Brustkrebspatienten und -innen die nächsten fünf Jahre überleben, auch aussagt, dass eben 20 % daran sterben. „Mensch, jeder 5. Patient stirbt in den nächsten fünf Jahren – und innerhalb der nächsten zehn Jahre sterben sogar 30!“, sagt er und schlägt sich die Hände vor die Augen. „Ich muss wohl lernen, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass meine Mutter stirbt. Ich muss lernen, mich von ihr zu verabschieden!“ „Nein, falsch“, entgegne ich. In Philipp habe ich seit langem endlich wieder jemand gefunden, der meinen Humor vollständig teilt, und ich genieße unseren launigen Austausch sehr. Weil ich weiß, dass er mich verstehen wird, schlüpfe ich nicht in die Therapeutenrolle, sondern antworte ihm als Freundin. „Die Wahrscheinlichkeit ist viel höher als zwanzig Prozent, dass sie in den nächsten fünf Jahren stirbt.“ Philipp runzelt die Stirn. „Weil wir ja nicht...

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Du blickst zurück: Das Jahr hat es nicht gut mit dir gemeint. Vielleicht war es auch das ganze Leben. Du weißt nicht mehr, wie oft du wieder aufgestanden bist, nachdem du gefallen bist, wie oft du deine Hoffnung aus den Scherben deiner Träume neu zusammengebastelt hast. Windschief und wacklig steht sie da, trotzt kaum noch dem nächsten Hauch. Du hast dich aufgerichtet an dem Glauben, es gäbe, irgendwann, auch für dich ein „danach“. Durchhalteparolen skandierend, hast du dir trotzige Rebellion auf hoch gehaltene Fahnen geschrieben, hast dich selbst mit deinem Tun vertauscht, und einmal dachtest du sogar, endlich entschädigt zu sein. Du hast ans Glück geglaubt, bis dir der Köder wieder weggezogen wurde. Du siehst ein, dass es für dich keine Wiedergutmachung gibt. Nun weißt du nicht mehr, was einfacher, was schwieriger ist: Aufgeben und weitermachen gleichen sich aus, jeder Unterschied taut weg. Du hast verstanden, dass du niemanden retten kannst, dich selbst nicht, noch weniger die,...

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„Was würdest du tun“, fragt mich ein Freund, „wenn du genau wüsstest, dass morgen der letzte Tag deines Lebens wäre?“ Ich habe ihn erst vor kurzem kennengelernt, als er, desorientiert und in Aufruhr, durchs Klinikum irrte. Er begleitete seine Mutter zur Tumorsprechstunde und suchte die Radiologie. Ich zeigte sie ihm, und während seine Mutter eine weitere Untersuchung über sich ergehen lassen musste, gingen wir einen Kaffee trinken – und freundeten uns an. Er ist Statistiker – doch in diesem Fall tut ihm sein Wissen kaum Gutes. Denn, was als Zahlen relativ positiv wirkt: „Im Durchschnitt überleben 80 % der Frauen mit Brustkrebs die nächsten 5 Jahre und über 70 % die nächsten 10 Jahre. 70.000 Neuerkrankungen pro Jahr, 17.000 sterben pro Jahr daran“ wirkt gleich ganz anders, wenn wir an den Einzelfall denken. Was ist, wenn du zu den 20 Prozent gehörst, die es eben nicht über die nächsten 5 Jahre schaffen? Wenn du eine der 17.000, die es nicht schaffen, bist? Ich lächle ihm zu – diese...

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