„Es ist viel schlimmer, um jemanden zu trauern, der noch am Leben ist“, lese ich in einem Post – und sofort regt sich Abwehr in mir. Nicht nur, dass ich diese Aussage für sehr despektierlich, illegitimerweise wertend und narzisstisch halte – ich halte diese Aussage in ihrem feststellenden Charakter für gefährlich. Anderen, die trauern und leiden gegenüber ist sie schlichtweg unangebracht und entwertend, doch sich selbst gegenüber stilisiert sie Leiden als ein selbstgerechtes Opfer.

Leiden ist weder interpersonell skalierbar: Niemand hat das Recht zu sagen, er leide mehr oder weniger als andere. Es ist eben kein Wettkampf, wer mit dem meisten Leiden durchs Leben geht.

Noch ist Leiden eine unabdingbare festgelegte emotionale Konsequenz wie Schmerz (und sogar hier ist die Schmerzwahrnehmung interindividuell höchst unterschiedlich): Leiden setzt immer bereits die Interpretation eines Geschehens voraus. Leiden entsteht aus der eigenen kognitiven Perspektive heraus, ist kein „Ding an sich“. Beim Leiden habe ich also selbst ein Wörtchen mitzureden.

Besonders weitreichend und mit tragischen Auswirkungen ist die innere Haltung, dass es stark und damit erstrebenswert sei, viel auszuhalten. Dies ist im doppelten Sinne narzisstisch: Zum einen überschätze ich mich selbst Bedeutung auch als Erwachsener derart, dass ich tatsächlich den Anspruch erhebe, mit besonderer Achtung behandelt zu werden.

(Die Frage ist nur: Von wem denn? Wenn wir als Kinder noch unbedingt die kontinuierliche Zuwendung und Versorgung durch Bezugspersonen benötigen (und, ja: Viele von uns sind hier emotional unterernährt worden), sollten wir uns als Erwachsene irgendwann in der Lage sehen, diesen kindlichen Narzissmus zu überwinden und Verantwortung für uns selbst und damit auch unser Gefühlserleben zu übernehmen. Wenn ich mich dazu nicht selbst in der Lage sehe, kann ich mir therapeutischen Beistand suchen.) Im Allgemeinen jedoch hat die Welt, haben meine Mitmenschen anderes zu tun, als gerade mir zu hofieren. Sie sind nämlich mit sich selbst beschäftigt und versuchen, durchs eigenen Leben zu kommen.

Zum anderen jedoch ist diese Internalisierung typisch deutsch anmutender Sprichwörter wie „nur die Harten kommen in den Garten“, „Indianer kennen keinen Schmerz“ etc. unbedingt aufzulösen: Diese dysfunktionalen Glaubenssätze nämlich gewinnen ein Eigenleben und veranlassen ihrerseits, dass ich mein Erleben auch oft genug als „Leiden“ interpretiere, um dann mit einer zur Schau getragenen Härte gegen mich selbst meinen Selbstwert auf diese absurde Art stabilisieren zu können. Innerlich gebe ich mich dann meinem Selbstmitleid und der Anklage an jene, die mir augenscheinlich Unrecht taten, hin. Ich übertrage den anderen die Aufgabe, mich zu erwählen, mich zu ihrem Lebensinhalt zu machen, gut zu mir zu sein.

Was für ein Teufelskreis!

Natürlich ist es immer angebracht, sich selbst gegenüber empathisch zu sein: Das meint, dass ich meine eigenen Affekte und Gefühle durchaus wahrnehme und vor mir validiere. Dies ist wichtig, um handlungsfähig zu werden. Gefühle sind kein Zweck an sich, Gefühle sind Handlungsmotivatoren: Sie veranlassen uns, etwas zu tun. Gefühle sind dabei Polaroidfotos gleich, sie zeigen einen Augenblick – der doch im Entstehen und Wahrgenommensein sich bereits weiter entwickelt. Wer den Anspruch an sich hat, viel auszuhalten, sich viel aufzuladen, anderen viel abzunehmen, tut dies i.d.R. nicht aus echter Zuwendung anderen gegenüber sondern aus einem Bedürfnis nach Anerkennung heraus. Hier wird nun die kindlich-narzisstische und sehr bigotte Strategie verwendet, sich selbst als so aufopferungsvoll zu zeigen, damit also leidend UND hart sich selbst gegenüber, in der Erwartung, der andere möge dem gleichen dysfunktionalen Glaubensmuster unterlegen sein und mir tatsächlich Lorbeeren für mein Opfer zutragen.

So kann kein echtes Miteinander entstehen. Es braucht ein Innehalten, eine Rücknahme der delegierten Verantwortung für sich selbst und eine Rückgabe der Autonomie an mein Gegenüber.

Lass dir nicht alles von dir selbst gefallen – darauf wies uns schon Viktor Frankl hin.

In echter Empathie für sich selbst und damit füreinander kann ich dann wirklich erfüllende, emotional (nach-)nährende Beziehungen eingehen. Nur, wenn ich mir und dem anderen zugestehen kann, ein gutes Leben zu haben (auch ohne einander), kann eine wirkliche erwachsene Bindung zu einander entstehen. Und ich kann sagen: „Wie schön, dass du lebst, auch, wenn wir nicht (mehr) zusammen sind. Zu wissen, dass du lebst, dass du gut leben kannst, macht mir den Abschied von dir leichter.“

 

 

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