Ich schlendere durch den nächtlichen Schlossgarten in Stuttgart – der Unterrichtstag war lang, der Theaterabend ergiebig – lange schon habe ich meine Begleitung verabschiedet und will nun noch, nur für mich, zur Ruhe kommen: Ich möchte Stille atmen. 
Im Schatten der Bäume erkenne ich eine Gestalt: Sie liegt zusammengekauert am Boden. Das Mondlicht lässt nur erahnen, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelt. Während mein Denken kurz erschreckt („Liegt hier ein Toter?“) läuft mein Körper auf den Schattenriss zu. Ich knie mich neben ihm nieder und berühre sanft seine Schulter, schüttle ihn ein wenig: „Alles ok?“ frage ich unbeholfen und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Wie erleichtert bin ich, als ich ihn atmen sehe!

Als ich später meiner Freundin diese Geschichte erzähle, ist sie besorgt: „Hast du denn nie Angst?“, will sie wissen.
Doch, ich habe Angst. Ich bin ja nicht dumm. Aber ich packe meine Angst, ich definiere sie, ich gebe ihr ein Gesicht: Natürlich ist mir unwohl, wenn ich, alleine in der Nacht im dunklen Park, auf einen am Boden liegenden Mann stoße. Mir ist unwohl, ich habe Angst, weil ich nicht weiß, wie ich diese Situation einzuordnen habe: Sie ist mir neu. Also sehe ich nach. Und die Angst verschwindet. 
Mut heißt nur, dich deiner Angst zu stellen, bei dem nachzuschauen, was dir Angst macht – mehr braucht es nicht.

Zwei große, braune Augen sehen mich aus einem hageren, dunklen Gesicht heraus an. Der Mann rappelt sich auf, lächelt mich an: „Thank you. Thank you for asking. I love you.“ bricht es aus ihm heraus und dann verschwindet er schnell ihn der Dunkelheit des Parks.

Ich bleibe alleine zurück, und Melancholie legt sich wie eine Decke um mich. Was muss dieser Mann durchgemacht haben, was hat er erleben müssen? Was haben ihm andere Menschen angetan?
Ich glaube fast, aus der Finsternis heraus einen Wolf heulen zu hören. „lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.“ (Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, wenn man sich nicht kennt.) 
Ich habe mich mein ganzes bisheriges Leben lang geweigert, diesen Satz des römischen Komödiendichters Titus Maccius Plautus aus seinen Asinaria (Eseleien) für bare Münze zu nehmen – auch oder vielleicht gerade WEIL mich das Verhalten so manches Menschen so manches Mal an seiner Menschlichkeit zweifeln ließ. Ich halte am Glauben an das in jedem Menschen inne wohnende Gute fest. Ich WILL an dem Glauben festhalten, ich muss, um nicht zu verzweifeln. Denn was bleibt, wenn wir vergessen, dass wir alle Menschen sind?

Ich habe im Ausland studiert: Mit kaum einem Wort Spanisch habe ich mich für Psychologie immatrikuliert. Die ersten Monate stellten mich auf eine harte Probe: Ich wurde verächtlich als „la rubia“ („die Blonde“) betitelt, wenn ich mich bemühte, in meinem geradebrechten Spanisch ein Ticket für den Bus am Dorfkiosk zu kaufen, wurden meine Bemühungen mit „Yo no hablo extranjero“ (Ich spreche kein Ausländisch) abgespeist. Wie mag es Menschen im Ausland, hier in Deutschland, gehen, denen ihre Übergangsbleiben angezündet werden? Die geprügelt, gejagt, wieder "zurück geschickt" werden, viele in den Tod? Wer ist denn gerne fremd in einem Land, das andere „Heimat“ nennen?

Es wird Weihnachten. Wir lauschen der biblischen Geschichte von Maria und Josef, die abgewiesen wurden, bis sie in einem Stall Zuflucht fanden. Wir sind entsetzt: Wie können Bedürftige in der Not abgewiesen werden?

Ich glaube, wir alle haben die Wahl: Wir sind nicht zum Wolf geboren. 
Wir können menschlich sein. Doch dazu brauchen wir Mut.

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