Durch den vernebelten Morgenregenschleier entdecke ich eine vertraut wirkende Gestalt, einen Regenschirm über sich haltend, die steile Treppe zum Kirchlein hinaufsteigen. Ich hüpfe hoch, reiße beide arme winkend hoch und renne ihr, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, entgegen.
Erst, als die Frau einen Meter von mir entfernt ist, erkenne ich, dass ich sie eben nicht kenne. „Oh“, sage ich, „entschuldigen Sie – ich habe Sie verwechselt!“
Die Dame grinst mich an: „Das macht gar nichts – man sieht heute so selten freundliche Gesichter!“
„Ja“, stimme ich zu und halte mir eine Hand vor den Mund, „das liegt wohl auch an der aktuellen Maskerade – sie schottet uns voneinander ab!“
Und wir beginnen eine angenehme Plauderei über das, was uns als Menschen verbindet, was uns wichtig ist, während wir uns langsam einregnen lassen und das aufgehende Rosenrot die Stadt unter uns in einen zarten Farbdunst taucht.
In der Mittagspause setze ich mich mit meinem Becher Gemüse draußen an ein Ende eines 2 m langen Steintisches, am anderen Ende sitzt jemand. „Hier ist nicht frei“, grummelt er mich mit gerunzelter Stirn an. „Oh“, sage ich und stehe auf, „entschuldigen Sie – das habe ich dann verwechselt!“
„Frei ist schon,“ schimpft er, „aber 1,5 Meter Abstand! Aber ich gehe gleich, dann könne Sie sich setzen!“
Verwirrt, irritiert, setze ich mich wieder hin, immer noch sind 2 Meter Luft zwischen ihm und mir.
„Das also ist geglückt“, denke ich mir, „Wir betrachten uns gegenseitig als Bedrohung, halten uns als Gefährdung auf Abstand... Die Herde ist also zerschlagen, die Individuen sind voneinander isoliert... wie traurig, wie gruselig!“
Kurz vor dem zweiten Lockdown bemüht sich jeder, noch seine aktuellen reellen und antizipierten Bedürfnisse zu stillen: Die Menschen drängen an die Sonne, in die Geschäfte, in die Lokale und Restaurants. Und vielen fällt es schwer, das eigenen Verhalten auch den anderen Menschen zuzugestehen: Die meisten scheinen sich darüber aufzuregen, dass Gedränge herrscht, dass auch andere eine ähnliche Dringlichkeit verspüren wie sie selbst.
Wie konnte es, auch so schnell, geschehen, dass wir uns so voneinander entfernten, abtrennten, so von uns entfremdeten? Was geschieht, wenn wir nicht mehr an unserer Ähnlichkeit andocken, wenn uns die Nähe anderer Angst bereitet, uns aversiv, angeekelt in Rückzug gehen lässt?
Im Rumi, dem Lied der Liebe, heißt es:
The inner working of a human being
is a jungle. Sometimes wolves
dominate. Sometimes wild hogs.
Be wary when you breathe.
At one moment gentle, generous qualities,
like Joseph's, pass from one nature
to another. The next moment
vicious qualities move in hidden ways.
In every instant a new species rises
in the chest--now a demon, now an angel,
now a wild animal, now a human friend.
There are also those in this amazing jungle
who can absorb you into their own surrender.
If you have to stalk and steal something,
steal from them.
Ja, wenn wir irgendetwas, jemandem, nachstellen müssen, wenn wir etwas stehlen müssen: Stehlen wir nicht voneinander das Wichtigste, das uns vereint. Stehlen wir uns nicht unsere Menschlichkeit.