In der Psychotherapie gehen uns die Ressourcen aus: Wenn im Rahmen der Behandlung von Depressionen, aber auch von Angst- und Suchterkrankungen, es i.d.R. immer dazu gehört, einen Aktivierungsplan mit einem Genusstraining zu verknüpfen, ist es heute selten, auf die Frage: „Was tut Ihnen gut, was machen Sie gerne?“ mehr als ein hilfloses Schulterzucken zu erhalten.

„Ja, Depressive kommen kaum an ihre Ressourcen“, mag nun jemand argumentieren, doch deswegen schieben wir gerne die Frage nach „Was haben Sie früher gerne getan?“. Die meisten von uns werden im Laufe der Karrierejahre so von Zeitmangel in die Knechtschaft genommen, dass vieles von dem, was uns in früheren Lebensphasen noch zugänglich war (und seien es Spieleabende mit Freunden, Städtetrips, Saunabesuche oder Tennis!), abhanden gekommen ist. Doch erinnern wir, dass uns diese Aktivitäten früher einmal Freude bereiteten, uns vielleicht auch in schwierigen Zeiten, Krisen, stabilisierten... Was bleibt davon heute?

Wenn ich mit Kollegen debattiere, merken wir, wie zunehmend belastet auch wir selbst sind. Unsere bewährten verhaltenstherapeutischen Methoden versagen zum immer größeren Teil, alles, was wir aus Hirnforschung wissen, würde nach einer sofortigen Umkehr der Maßnahmen wie Maskerade und Sozialisoloation rufen... Unsere Spiegelneurone verhungern, unser Mitgefühl verkümmert – züchten wir so eine neue narzisstische und soziopathische Gesellschaft? Wenn wir für uns selbst mit Mühe und Not noch Ressourcen (er-)finden, wird es für unsere Klienten immer schwerer:

Du kannst nicht jeden zum Joggen in den Wald schicken, auf den Radwegen ist eh kaum mehr Platz, nicht jeder findet Handarbeit wie Nähen und Stricken toll, manche haben schon als Kinder Malen gehasst und die Chancen stehen schlecht, dass sie diese Aktivitäten im Lockdown nun als Ressource entdecken. Einer an einer Essstörung erkrankten Person kannst du nicht Backen und Kochen als neues Glück vermitteln. Die Idee, mir wieder ein Patience-Kartenset anzuschaffen, habe ich sogar für mich selbst schnell wieder verworfen.
Die Menschen, die die positiven Aspekte des Lockdowns wie Entschleunigung, Zeit, eben jene heimischen Hobbys wiederzuentdecken oder endlich mal mit dem Partner daheim Übungen zur Gewaltfreien Kommunikation zu machen, sind wenige, werden immer weniger, und: Das sind (noch) nicht unsere Klienten.

All meine Single-Klienten auf Partnersuche, die vormals jene Kandidaten, die als Hobby „fernsehen und daheim Wein trinken“ angegeben hatten, sofort ausgemustert haben, zögern heute, diese wegzuklicken. Wäre es, nicht nur kurz- sondern auch mittel- oder sogar verstörenderweise langfristig die bessere Wahl, sich jemanden anzuschaffen, dem es gelingen kann, dauerhaft Genuss auf dem heimischen Sofa zu empfinden? Apropos anschaffen: Was wird mit all den jetzt angeschafften Haustieren in einer Zeit nach Covid 19 (die es hoffentlich geben wird) geschehen?

Ich kann kein Zoom mehr sehen, ich entwickle eine Aversion gegen das Telefon, meine Knochen tun mir vom zu vielen Laufen weh, und wenn ich morgens aufwache, suche ich vergeblich nach meiner sonst so zuverlässigen, vertrauten guten Laune.

„Wir sind alle durch“, sagt mein Lieblingskollege, ein Psychiater, den ich auf der Fortbildung treffe, „es dauert nicht mehr lange, bis auch wir Therapeuten uns in den Totstellreflex zurückziehen müssen!“

„Die Strategien zur Selbstberuhigung versagen mehr und mehr“, entgegne ich, „es fehlt an Transparenz, es fehlt an Perspektive!“

„Du bist doch auch Risikopatient?“, fragt er, und ich schimpfe los: „Wie ich das Wort allein schon hasse! Was glaubst du denn, was es mit Leuten macht, wenn sie ständig hören, dass sie „Risiko“ und „Patient“ sind? Und gerade die, die schon mit dem eigenen Sterben, mit Krankheit und Tod konfrontiert wurden, wollen doch umso mehr das Leben feiern! Da will kaum einer, allein, aber virengeschützt, im Zimmer sitzen und sich freuen, dass er das nun noch länger machen darf, weil ihn keiner besucht und er nicht raus soll. Das ist LEBENSzeit, die hier abgesessen wird. Die hängt keiner hinten dran. Wir Menschen sind soziale Tiere, wir brauchen Nähe, brauchen Umarmungen, brauchen das Lächeln, nicht nur in den Augen, sondern auch auf den Lippen des Anderen!“

Mein Kollege kennt mich, er weiß, dass ich, wenn ich mich mal echauffiere, dies durchaus auch eine halbe Stunde machen kann. Also nimmt er mein Handy vom Tisch, öffnet die Musikdateien, klickt auf eine Playlist. Er schleudert sich die Schuhe von den Füßen, zieht sich die Socken aus. Ganz kurz runzelt mein klischee-schätzender Ego State, er ist ganz jung und früh entstanden, die Stirn und denkt „ach nee, ein BARFUSSTÄNZER!“. Dann knallt mein älteres, lebenserfahreneres Ich, das gelernt hat, dass zwischen Schwarz und Weiß die Welt des Bunten lockt, die Schublade mit Vorurteilen wieder zu. Und als „riders on the storm“ erklingt, springe auch ich auf.

Die Klosterfrauen gehen draußen am Fenster vorbei, maskenlos, schauen herein – und lächeln wohlwollend.
Und du und ich, wir tanzen.

 

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