Heute also ist es wieder soweit: An einem wolkigen, verregneten Tag, dem 9. Mai 1921, wurdest du geboren. Ich war schon geübt im Gebären, du warst mein 3. Kind, das verunsicherte mich nicht.
Und doch wurdest du in eine Atmosphäre der Unsicherheit hineingeworfen. Eine Atmosphäre, die schnell, viel schneller als gedacht, zu einer Stimmung der Angst wurde. Vielleicht war es bereits ein Vorbote der Wolke des Hasses, die sich irgendwo dort hinten am Horizont begann zusammenzuballen, dass Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti in einem mehr als fragwürdigen Prozess wegen angeblichen Raubmords im September zum Tod verurteilt und, sechs Jahre später, 1927, hingerichtet wurden. Die italienischen Einwanderer waren Anarchisten und Kriegsdienst-Verweigerer – mithin eine wahrgenommene Bedrohung für den aufkeimenden National- und Patriotismus. Jene Hydrae, diese Wortungeheuer, die sich das Suffix -ismus zu eigen machen, begannen zu dieser Zeit erneut die Auen der Mitmenschlichkeit abzugrasen.
Angst wird zu Wut, Aggression wird zu Hass – wir alle, die wir uns der Fähigkeit, selbst zu denken, bewahren, wissen das. Und dann beginnen wir irgendwann, still zu halten – wir ducken uns unter den gezückten Flammenschwertern weg, bangen, hoffen, unseren Clan durch Anpassung, durch Unauffälligkeit, schützen zu können. Als ob es darum ginge, unbemerkt durchs Leben zu kommen!
Du warst zu jung, um dein Leben als besonders, als einzigartig kostbar zu bestimmen. Du lebtest die Dringlichkeit deiner Lebendigkeit so unbedingt ans „Du“, an die Liebe zum Miteinander, geknüpft, dass du ein Ich ohne die Anderen nicht vorstellen wolltest, nicht vorstellen konntest.
Vielleicht müssen wir alt werden, älter, um diesem Irrglauben zu unterliegen, vielleicht müssen wir zu viel Angst inhaliert haben, um zu glauben, dass es allein unser eigenes Leben oder das derer, die wir lieben, zu retten gilt.
Ja, zunächst hast auch du die Scheinheiligkeit des damals propagierten Gemeinschaftssinnes nicht hinterfragt – du hast mitgemacht, hast mitgezogen – es gehört viel dazu, die Bigotterie des „wir stehen zusammen, wir sind gemeinsam“ zu entlarven, solange das „wir gemeinsam gegen...“ sich noch nicht auf echte Menschen bezieht. Doch dann wurden dir und deinem Bruder klar, dass jedes „gegen“ sich, irgendwann, auf Menschen richtet. Und ihr begannt du kämpfen.
Ich hatte versucht, uns als Familie wegzuducken, uns zu schützen – meine Mutterliebe erlaubte keine Rebellion. Und doch zwang diese Liebe mich, meine Furcht um dich, mein Leiden wegen deiner Gefährdung, als Überbewertung meines eigenen Ichs in den Hintergrund zu stellen. Du warst, ihr wart, jung und tapfer genug, um unverrückbar an der Wertigkeit des guten Lebens festzuhalten: Ein Leben, das verlangt, alles Lebendige gleich und -berechtigt zu achten. Und ich ließ euch ziehen. Weil ich euch liebte, es immer noch tue. Weil es nicht um mich geht, nicht um meinen Schmerz aufgrund eures Tods, sondern um das Leid, das ihr fühltet, und die Möglichkeit, die ihr gesehen habt.
Und dann warst du, wart ihr fort. Wart mir genommen, so rasch, und die Hoffnung, dich wieder in die Arme zu schließen, mein Kind, das du aus mir entstanden bist, starb mit dir, mit diesem Ver-Urteil. Ein Urteil, das sich so vertan hat, so verrückt hat, dass es den Lauf der Geschichte und unser aller Leben in ein „davor – danach“ teilte, uns entzweite. Das einzige, was mich noch durchdrang, war das mich Anklammern an den Gedanken, dass du, hoffentlich, oh, irgendeines Gottes Gnaden willen, keine Angst hattest, als du in deinen Tod gingst - dass weder du, noch dein Körper, leiden musstest. Bitte, oh bitte, lass diesen Gedanken Wirklichkeit sein - nicht um meines Trosts, nur um meiner Liebe willen.
Wieder einmal haben die Menschen vergessen, dass Gemeinsamkeit nie gegen etwas, gegen jemand, sich richten kann, ohne sich selbst ad absurdum zu führen. Wenn sich Länder mit verstärkten Grenzen wie Individuen mit Gesichtsmasken abschotten, Spielplätze mit roten Bändern umgürten, erst die „da draußen“, dann „da drinnen“ isoliert verrecken lassen – welche Symbole gewinnen da Macht?
Wenn sich heute Menschen über ihren bunt genähten Mundschutz hinweg, immer passend zu Outfit des Tages, aus den Augenwinkeln beäugen, sich gegenseitig nur noch als Gefährdung erleben, auch Kinder um die Wahrnehmung eines wohlwollenden Lächelns bringen, nicht einmal mehr die Augen lächeln lassen, weil jeder Blickkontakt vermieden wird – was treten wir los, was leben wir da?
Wenn wir riskieren, dass Seele und Gehirne der Generation von übermorgen durch fehlende Spiegelung des Gegenübers, weil Mimik nicht mehr zu erkennen ist, dauerhaft beschädigt werden – wenn wir wissen, dass insbesondere jene Neuronenverbände, die für die Fähigkeit zur Empathie und Sympathie zuständig zeichnen, damit zur Dysfunktionalität verkümmern – was tun wir uns, uns Lebewesen, an?
Mein Kind, meine Liebe: Auch heute bricht die Kluft wieder auf, eine Spaltung der Gesellschaft: Die, die anders denken, anders sind, werden verfemt und ausgegrenzt. Und wenn ich heute an dich denke, aus der Erlösung meines lange schon geschehenen eigenen Tods heraus, wünsche ich dich und mich, wünsche ich alle Menschen in den Spielraum der reinen Möglichkeit zurück – als wir alle als noch ungeborene Option Teil der Energie eines Universums voll wertgleichen Potenzials waren.