Als ich Mitte der 1990er aus Spanien zurückkam und in Augsburg zum Philosophiestudium strandete, war es unter uns Studenten gerade sehr en vogue, über die „Gehirn im Tank“ Thesen der zeitgenössischen Philosophie zu debattieren. Das waren sozusagen gedankliche Vorläufer des späteren Hollywood-Blockbusters „Matrix“. Auch das Gedankenexperiment der Forscherin Mary machte die Runde: Sie wuchs in einem farblosen schwarz-weiß Labor auf, studierte die Farblehre, weiß alles über die Wellenlängen des Lichts und den Farben, die so entstehen. Sie weiß, dass der Himmel blau ist, das Gras grün, dass Kirschen rot sind. Doch dann wird ihre Tür geöffnet: Sie tritt nach draußen, wendet das erste Mal den Blick gen Himmel, sieht seine Farben: Macht sie nun eine neue Erfahrung, hat sie einen Erkenntniszugewinn?
(Wer sich jetzt denkt, dass man schon sehr bekloppt sein muss, um über so was nachzudenken, dem möge gesagt sein: So sind wir, wir Philosophen – irgendwie ein wenig anders.)
Diese Fragestellung findet sich bis heute in der „Qualiadiskussion“ in der Erkenntnistheorie.
Macht es einen Unterschied, theoretisch zu wissen und praktisch zu erleben? Ist es anders, sich eine Berührung, einen Kuss vorzustellen oder wirklich zu empfinden?
Das Gehirn selbst hat keine Nerven, das Gehirn selbst sieht, hört, riecht, schmeckt, spürt nichts. Da fließen Daten in Form von elektro-chemischen Impulsen – oder eben nicht.
Wann entstand er eigentlich, dieser Trend, anderen beim Leben zuzusehen? Kam es mit dem „Big Brother“-Gedöns der beginnenden 2000er? Wann ploppten Sendungen wie Dschungelcamp, GNTM und Co. aus dem Boden?
Mehr und mehr gaben wir uns mit Stellvertreter-Erfahrungen zufrieden: Statt selbst die engen Gassen eines italienischen Provinznests zu durchstreifen, statt selbst die Winkel eines spanischen Bergdorfs zu erkunden, statt selbst Gipfel zu erklimmen und in die Tiefen der Ozeane zu tauchen, setzten wir uns mit einer Tüte Chips auf die Couch und sahen anderen zu.
Wann gaben wir uns mit dem Zuschauen zufrieden?
Vielleicht ist es Zeit, es wieder auszuprobieren: Mit dem Revival der eigenen (peinlichen) Jugend und Billy Joels „Piano Man“ die Songzeilen „There's an old man sittin' next to me, Makin' love to his tonic and gin“ an der Fußgängerampel raus zu schmettern, auch oder gerade wenn man so falsch singt wie ich; auf der Straße das Hüpfen zu beginnen, weil man gerade an eine leichte, zufällige Berührung, seine / ihre Berührung, denkt; mit funkelnden Augen wildfremde Menschen lächelnd zu grüßen und sich zu wundern, weshalb sie so erschrocken sind; einen Kanufahrer am Kanal abzupassen und zu fragen, weshalb denn niemand von denen im eisigen Wasser Handschuhe trägt; den Wind auf der Haut zu spüren und dein Herz beim Rennen rasen; plötzlich innezuhalten, weil irgendetwas nach Möglichkeiten riecht; dein Herz zu öffnen und ihm / ihr hinzuhalten; in Gedanken am Ufer zu knutschen und dir überlegen, ob er / sie nach Erdbeeren, Kaffee oder Pale Ale schmeckt (alles sehr lecker); fest daran zu glauben, dass deine Träume wahrhaftig sind.
Vielleicht ist es Zeit, der wiedergekehrten Freiheit keinen Kenncode abzuverlangen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich wieder leben zu trauen.