Mit meiner Tom Waits Play List im Ohr trabe ich gemütlich mit 6 min / km am Fluss entlang: Heute ist mir nicht nach Tempo, mir ist nach unbestimmten Liebeskummer, und keiner leidet so schön wie Tom Waits: Mit „Asylum Years“ hin, mit „Frank´s Wild Years“ zurück.

Genau die richtige Songauswahl, um dieses Jahr Revue passieren zu lassen: Dieses Jahr, das uns alle unfreiwillig in Rückzug gezwungen hat, das uns, jeder auf sich selbst gestellt, nach neuen Plätzen in uns suchen ließ – Plätze, die sich nur für wenige als neue Heimat erwiesen.
2020 ist kein Asyl, das zum Bleiben einlädt, im Gegenteil.

Ich sehne mich so sehr weg, dass es weh tut, ich will auch räumliche Distanz zwischen mich und … diese Zwischenwelt... bringen. Und gleichzeitig mag ich mich nicht dafür, dass ich nach Flügen in die Sonne google. „Und was ist mit deinem Suffizienzansatz?“ ereifert sich die Stimme in mir. Ich denke an einen Kollegen von der Uni, inzwischen ist er mir ein lieber Freund: Kürzlich stand ich vor einem seiner Fotos, er ist auch ein begnadeter Naturfotograf, und bewunderte die Großaufnahme eines jungen Fuchses. „Wenn wir wirklich Umweltschutz betreiben wollen,“ würde er sagen, „haben wir Menschen wieder zu lernen, hier, vor unserer Tür, in unserer Natur, unser Glück zu suchen, hier zufrieden zu sein – statt nach Neuseeland zu jetten.“
Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Retrospektiv kommt mir mein Leben wie eine groteske Anekdotensammlung vor: Aus der Balkonperspektive von Statler und Waldorf durchaus erheiternd. Und immer war ich auf der Suche nach Leitsätzen, nach Lebensweisheiten, habe mir so sehr gewünscht, in Notsituationen auf Kalenderspruchanalogien meiner früheren Bezugspersonen zurückgreifen zu können. Es hätten ruhig Plattitüden sein dürfen, Aphorismen aus rein subjektiver Lebenserfahrung heraus, die ich gewollt hätte: Doch so oft ich in mich hinein hörte, war da... nichts. Keine Stimme, die mir Rat oder Trost gab, die mir Leitplanken im Leben gewesen wären. Oft empfand ich es als anstrengend, stets mir selbst alles neu erschließen zu müssen, auf nichts zurückgreifen zu können. Heute, von meinem Balkon herab betrachtet, freue ich mich über die Selbstverantwortung, die ich damit erwarb.

Irgendwann begann ich, mir diese stützenden Lebenseinsichten aus den Mündern meiner Bezugspersonen zu erfinden und verlieh meinen Großeltern, die mich die ersten Lebensjahre aufzogen, beide längst verstorben, eine innere Stimme: „Madl, da brauchst ned z´rean, der Cheamsea kriagt alleweil Wasser nach!“ würde mich mein Opa trösten und er würde mir mein Ohr verzwirbeln, der einzige Liebesbeweis, zu dem er, selbst kriegstraumatisiert, fähig war. Doch diese Zärtlichkeitsgeste, die höllisch schmerzte, wiederholte er mir gegenüber so oft, dass ich mich heute wundere, weshalb ich keine Boxerohren entwickelt habe.

Bild von Alexa / Pixabay

Tom Waits „You´ll have to wait till yesterday is here“ begleitet diese Gedanken, ich rutsche auf einer Eisscholle aus, schliddere den Hang hinab und komme am Kiesufer zum Sitzen. „Gestrandet“, denke ich, „na sauber.“ Tom Waits jammert mir seinen „Train Song“ ins Ohr, der mich vor vielen Jahren dazu veranlasste, mit gebrochenem Herzen nach Kansas City zu fliegen, dort in den Zug nach St. Louis zu steigen und meinen Liebeskummer zu stilisieren (im therapeutischen psychodramatischen Rollenspiel würden wir das die Technik des Übertreibens nennen. Für jeden, der über sich selbst lachen kann, ist dies eine sehr effektive und effiziente Methode, unerwünschte Emotionen zu minimieren!). Was nicht klappte: Wann immer ich mich selbst ad absurdum führen wollte und mich tränenreich meinem Schmerz hingeben wollte, ploppte ein Amerikaner aus dem Boden und wollte mir mir Smalltalk führen. So konnte ich erst über mich und meine Melodramatik lachen, als ich mit einem Taxifahrer, es war just an Muttertag, über die unüberwindbar scheinende Trennung von Mann und Frau, nur in wenigen Momenten überwunden, philosophierte, symbolisiert durch die Brücke, die über den Missouri fließt. Das war so grotesk, dass ich mitten auf der Strecke einen Lachanfall bekam.

 

Und jetzt, hier am Ende des 2020er Asyls, noch nicht wissend, wohin die Reise in diesem Spiel des Lebens geht, ist es mir, als ob doch noch das Gestern, das so nie stattfand, zu mir zurückkommt und ich meine Großmutter höre: „Mei, Dirndl, wo d´Liab hiefoat, da derfst as ned liag´n lass´n. Aufheb´n musst as!“ Und dann stehe ich auf, wische mir den Dreck von meiner Hose, schalte auf Bocellis „Caruso“ um und laufe grinsend weiter.

Einen wunder- und vollen Jahreswechsel an alle! Und die Tiroler Achen speist den Chiemsee immer weiter!

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