In den letzten Jahrzehnten hat sich in westlichen Gesellschaften ein starker Trend zur Selbstoptimierung etabliert. Angespornt durch technologische Fortschritte, die Verbreitung von Coaching-Angeboten und die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Informationen, streben viele Menschen danach, ihre Leistungsfähigkeit und Effizienz in allen Lebensbereichen zu maximieren. Doch dieses unablässige Streben nach Perfektion hat auch eine Schattenseite: die zunehmende Pathologisierung normaler menschlicher Limitationen.

Selbstoptimierung und die Entstehung von Modediagnosen

Der Druck, jederzeit leistungsfähig und überdurchschnittlich zu sein, hat zu einer veränderten Wahrnehmung von Schwächen geführt. Konzentrationsprobleme, Schwierigkeiten im Zeitmanagement oder Gedächtnislücken – früher oft als Teil der individuellen Diversität akzeptiert – werden heute häufig als Symptome einer medizinischen Störung interpretiert. Dies spiegelt sich in der wachsenden Zahl an Diagnosen wie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wider.

Laut einer Studie des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2022 hat sich die Anzahl der ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen in Deutschland in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt. Während ADHS zweifellos eine reale und belastende Störung ist, kritisieren Experten wie der Psychiater Dr. Peter Falkai, dass die diagnostischen Kriterien immer weiter gefasst werden, sodass auch Menschen mit vorübergehenden Konzentrationsschwierigkeiten eingeschlossen werden.

Die Sehnsucht nach Besonderheit und Diagnosen wie Autismus oder Hochbegabung

Parallel zum Trend der Selbstoptimierung besteht eine zunehmende Sehnsucht nach Individualität und Besonderheit. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass Diagnosen wie Autismus-Spektrum-Störung (ASS) oder die Einstufung als hochbegabt vermehrt angestrebt werden. Die Anzahl der diagnostizierten Fälle von Autismus hat sich laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zwischen 2000 und 2020 weltweit verfünffacht. Auch wenn ein Teil dieser Zunahme auf bessere Diagnostik zurückzuführen ist, betonen Forscher wie Prof. Simon Baron-Cohen, dass der Wunsch nach einem "Label" eine Rolle spielt.

Besonders auffällig ist, dass Eltern zunehmend Tests für ihre Kinder beantragen, um diese als hochbegabt einstufen zu lassen. Der Bildungsforscher Prof. Dr. Heiner Barz erklärt dieses Phänomen damit, dass ein solches Label nicht nur das Selbstwertgefühl steigern kann, sondern auch Zugang zu speziellen Förderprogrammen bietet.

Gesellschaftliche Auswirkungen der Pathologisierung

Die inflationäre Vergabe von Diagnosen hat weitreichende Konsequenzen. Einerseits führt sie zu einer Übermedikalisierung: Laut der Barmer-Arztreport 2023 erhielten 12 % der deutschen Erwachsenen mit einer ADHS-Diagnose verschreibungspflichtige Stimulanzien wie Methylphenidat. Andererseits trägt die Pathologisierung dazu bei, dass der Druck zur Selbstoptimierung weiter verstärkt wird. Menschen, die nicht diagnostiziert sind, könnten sich als "minderwertig" empfinden, weil sie nicht über die "besondere" Eigenschaft oder Diagnose verfügen.

Die zunehmende Pathologisierung menschlicher Limitationen und die Sehnsucht nach Diagnosen wie Autismus oder Hochbegabung sind Ausdruck einer Gesellschaft, die das Streben nach Perfektion über das Akzeptieren menschlicher Vielfalt stellt. Es bedarf einer gesellschaftlichen Diskussion darüber, wie wir Normen definieren und welche Rolle Diagnosen spielen sollten. Nur so kann verhindert werden, dass normale Variationen des Menschseins weiterhin überdiagnostiziert und pathologisiert werden.

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