Draußen ist es schon dunkel, als du zum Hörer greifst, um deinen Befund zu erfragen. Für dich ist es pro forma, du weißt schon längst, was für dich an der Reihe ist. Seit einem Jahr spürst du den Knoten in deiner Brust, und doch musste erst dein Himmel für dich einstürzen, dass du bereit warst, dir Gewissheit zu verschaffen.
Der Stimme am anderen Ende der Leitung fällt es hörbar schwer, ihr Urteil zu sprechen: Unter viele „Ähm“s und „Ah“s sollen die Signalworte einblenden, doch du verstehst: Es ist ein bösartiger Tumor, ein Karzinom, es muss raus, besser jetzt als später, danach wird man sehen, sicher sind Bestrahlen, Antihormontherapie, eine Chemo ist noch ungewiss.
Und du nickst, bis dir einfällt, dass die andere Person dich ja nicht sehen kann, also lächelst du, vielleicht kann sie das hören. Dann legst du auf und wartest, wartest, dass sich etwas, irgendetwas, in dir tut. Doch nichts als Stille echot dir zurück, selbst das Klirren deines zerspringenden Herzens ist doch schon verloschen. Für einen Moment denkst du, wie tröstend es wäre, könntest du dich an ihn lehnen, deinen Kopf an seine Schulter, und er würde dich halten, dir ein „das schaffen wir schon“ zuflüstern. Aber du weißt, dass du ein kognitives Klischee kreierst, nicht nur, weil er nicht mehr da ist, nie wirklich da war, zumindest nicht für dich, sondern auch, weil du an Trost doch sowieso nicht glaubst. Der schwerste Gang steht dir heute noch bevor, du musst losziehen und ihn frei geben, er wird verblassen, irgendwann, zu einem schattenhaften Schemen, jemand, den du irgendwann mal glaubtest zu kennen. Diese Liebe, die dir so lebenswichtig schien, ist dir wie Sand zwischen den Fingern zerronnen.
Du schaust in deinen Kalender: Du hast für die OP doch keine Zeit. Deine Brust beginnt zu pochen, scheint zu sagen: Viel lieber will ich mich einer streichelnden Hand anvertrauen, einer leidenschaftlichen Berührung hingeben, als mich aufschneiden und ausweiden zu lassen. Kannst du mir das nicht ersparen? Kannst du diese Folgen deiner Daily Soap nicht einfach überspringen? 



Existentieller Exkurs
In deiner Vorstellung stehst du von deinem Stammtisch auf. Sartre saß neben dir, hebt nur erstaunt den Blick, und wie gut du es kennst, die Radikalität des Glaubenwollens, weil du in diesem Nichtsinn des Seins dich doch an etwas klammern willst. Wie Sartre, der die Hände streckt und Luft zu pflücken scheint, und dabei doch nur auf der Suche nach einem überzeugenden fanatischen Gedanken ist, nach etwas, das endlich doch mal bleibt. Und wenn ihn jemand sieht, nutzt er die Gesten aus, um seine Worte zu betonen. Von Extremen spricht er, von der Nichtigkeit des Seins in der sinnentleerten Zufälligkeit. Wie er kennst du die Gefahr, in dieser existentiellen Nichtigkeit bereitwillig die Ratio zu massakrieren, um ein Phantombild zu erschaffen, eine Überzeugung, etwas, wofür es sich zu sterben lohnt – du willst der Kontingenz des Seins doch noch Sinn abringen. Nicht, dass du Schicksal schaffen willst, du willst dich nur befreien, im Erfinden einer autonomen Wahl. Und Sartres Panik fordert Fanatismus, versucht sich selbst in Radikalität aufzuheben. 
Brecht hält der lodernden Sartreschen Angst seine Lebensfurcht entgegen – leichter ist es, sich davon abzulenken, du musst dafür nicht politisch sein, die existentielle Furcht in ihrer Sinnlosigkeit lässt sich leichter überspielen. Du kannst so tun, als ob du´s ernst meinst, als ob du auch politisch bist, als ob du eine Meinung hast – und suchst doch nur hedonistischen Zeitvertreib. Auch Brechts Hände greifen suchend in die Luft, doch wenn ein fremder Blick darauf fällt, tut er schnell so, als griffe er nach seiner Pfeife in seinem Mund.
„Dem Tod kannst du nicht entrinnen, er löscht doch jeden aus“, meldet sich Camus aus dem Hintergrund, er lehnt dort in der Ecke an der Wand, gelassen, weil er sich daran zu stützen weiß, muss er sich keine Sauerstoffatome pflücken. 


All deine ungeweinten Tränen, und sage nicht: „noch ungeweint“, denn sie werden nie geweint werden, gehen eine Symbiose ein mit all den offenen Fragen. Da ist etwas, was du anklagend dem Himmel entgegenschleudern müsstest, und du probierst dich einmal daran, ein „Warum denn wieder ich?“ zu rufen, doch, wenn du ehrlich bist, interessiert dich die Antwort nicht, deine Worte, all die Fragen, sind nur Hülsen, inhaltsleer, „warum nicht wieder du?“ läuft auf das selbe hinaus. Die wenigen Wochen glaubtest du, entschädigt zu sein, entschädigt für all das, was jemals war, und du imaginiertest eine wunderbare Zukunft, doch eigentlich war es ein umgekehrter Prozess, denn die Zukunft entstand in dir, aus seinen Worten, und alles war beschwingt in Aufruhr, nicht, weil du liebst, das hast du oft genug getan, vielmehr weil du glaubtest, auch geliebt zu sein. Die mutwillige Täuschung, nicht nicht-intentional, von jenem gegenüber, jenem Anderen, der vor dir da war und nach dir da sein wird, zerbarst dir das Herz, eben genau das bereitwillig in Kauf nehmend.

Und dann bist du plötzlich froh, allein zu sein, niemand ist mehr da, den du beruhigen musst, den du mit tragen musst, du darfst nun deine Kraft für dich verwenden, und freedom´s just another word for nothing left to lose, erinnert dich Janis Joplin aus deiner Erinnerung an die Möglichkeit, in all dieser Zufälligkeit dir deine eigene Würde zu erschaffen. Im vollen Bewusstsein, dass keine schicksalshafte Macht außerhalb von dir dir Sinn darbieten wird, zwinkerst du Camus nun zu und fügst dich ein. Wir alle sind geboren, wir alle sterben ab dem Moment der Geburt – lass das dazwischen Leben sein, aufrichtig und in Ehrlichkeit, wir wollen unsere Menschlichkeit selbst definieren, daran messen, wie wir miteinander menschlich sind. 


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