Das vergangene Jahr hat viele von uns dazu gezwungen, unsere Beziehungen neu zu beleuchten. Unter dem Brennglas soziopolitischer Entscheidungen kamen wir an unsere grundlegenden Glaubenssätze, sind mit unseren fundamentalen Vorwegannahmen über den Menschen, die Welt und unsere Beziehungen konfrontiert worden.

Einige Beziehungen haben sich so intensiviert – viele sind auseinander divergiert. Wenn früher Freundschaften, Liebschaften, Partnerschaften, durchaus über Jahre dahin mäandern konnten, galt es nun, sich aktiv dafür – oder dagegen zu entscheiden. Wir lebten im Extrem: Im Homeoffice und Homeschooling gingen unsere Rückzugsorte innerhalb der Partnerschaften verloren, die Kontaktbeschränkungen verhinderten Nähe und Intimität mit Freunden.

Nie zuvor habe ich mit meinen Klienten in der Therapie deren implizite Beziehungskonzepte analysiert und geklärt. Und immer wieder stellte sich die Frage, weshalb es oft leichter scheint, Freunden wohlwollender und toleranter als dem Partner gegenüber zu sein.

Was unterscheidet denn Freundschaft von Liebe? Gibt es hier qualitative Kategorienunterschiede, befinden sich beide auf dem selben Kontinuum und der Unterschied ist allein im Quantitativen zu finden?
In meinem humanistisch geprägten Verständnis gehen Freundschaft und Liebe auf die selben Bedürfnisse zurück: Intimität, Nähe, Gesehenwerden, Verständnis, gemeinsame Zeit etc. Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie / Existenzanalyse betonte die Wichtigkeit der freundschaftlichen und erotischen Anziehung sowie der unbedingten Zuwendung (der Nächstenliebe), innerhalb einer stabilen Partnerschaft. Filia, Freundschaft, und Agape, Nächstenliebe, sind wohl die beiden tragenden Pfeiler einer überdauernden Freundschaft.

Doch leider vermittelt uns unsere Gesellschaft häufig ein anderes Verständnis von Liebe: Verliebtsein wird hoch stilisiert, es gibt kaum einen Popsong, der nicht diesen dopamininduzierten psychoseähnlichen Zustand als Liebe verkauft. Und so jagen zahlreiche Menschen ein Leben lang immer wieder diesem Rausch hinterher. Naturbedingt hält dieser Zustand in etwa bis zu 6 Monate – unser Körper setzt alles daran, dieses wahnhafte Erleben zu beenden. Denn wer verliebt ist, idealisiert den anderen, kann nicht klar denken, sich auf kaum etwas anderes fokussieren als den geliebten Menschen. Das Risiko- und Gefahrenbewusstsein wird dabei genauso beeinträchtigt wie Impulskontrolle und die Fähigkeit zu Realitätschecks.

Wenn wir dann mit den Monaten und Jahren mehr und mehr auf dem Boden der Wirklichkeit (des geteilten Alltags) landen, zeigt sich, ob wie neben Eros, der sexuellen Anziehung ausreichend Filia und Agape zueinander entwickelt haben... Wenn wir jedoch dem Trug unterliegen, eine Partnerschaft gründe auf dauerhaftem Verknalltsein, beginnen wir häufig, einen Mangel in der Beziehung zu vermuten. Und nachdem der Weg von der Schuldexternalisierung zur Eigenverantwortung ein recht langer ist, verkehren wir die anfängliche Idealisierung des Partners nun oft ins Gegenteil: Wir sehen den anderen nicht mehr in seinem besten Licht, gehen nicht mehr it ihm um, als ob er sein bestes Ich leben würde – wir behandeln in so, als ob er sein schlechtestes Ich, seine böseste Intention, tagtäglich zeigen würde...

In einer Freundschaft laufen wir nicht so leicht Gefahr, unserem Freund seine gute Absicht uns gegenüber abzusprechen. Wir gehen davon aus, dass er es gut mit uns meint. Wir erheben keinen Besitzanspruch auf Gefühle, Gedanken, Meinungen und Zeit des anderen – wir freuen uns einfach, wenn wir zusammen Zeit verbringen können. Wir hoffen und wollen das Beste für den anderen – selbst, wenn das bedeutet, weniger Zeit miteinander verbringen zu können (zum Beispiel bei einer Versetzung, einem Umzug, einer neuen Partnerschaft, die der Freund eingeht...). Wir müssen Freundschaft nicht definieren wir nehmen sie wahr, wie sie ist, wird müssen ihr kein Etikett aufkleben, wie wir es häufig bei sexuellen Beziehungen glauben, tun zu müssen...

Freundschaft leben wir meist intuitiv, zwanglos, in einer uns gegebenen Selbstverständlichkeit.

Wenn es uns gelingt, all dies auch in einer Partnerbeziehung zu bewahren (und das kann gelingen!), ruht unsere Liebe auf dem Fundament von Filia, Eros und Agape – und hält den meisten Erdbeben (und Pandemien) stand.

Wenn uns in einem Alter jenseits der 35 Verliebtsein immer noch wichtiger ist als Liebe scheint, wir immer noch der Mär des Traumpartners hinterherhecheln, uns immer wieder auf die Suche nach dem „idealen Gegenüber“ in Tinder Dates und Co. stürzen – dann könnten wir einmal innehalten und in unserer eigenen Persönlichkeitsstruktur und Bindungstypologie nachsehen, statt unser (nie erreichbares Dauer-)Glück im Außen finden zu müssen.

 

 

 

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